Tinnitus Illustration

The Sound of Silence – Tinnitus & der Verlust der Stille

Eine Vorgeschichte

Neun Stunden im Büro, manchmal zehn, manchmal zwölf. Die nicht wirklich ergonomische Körperhaltung eines Maschinenbaukonstrukteurs: eine Hand immer an der Maus, die andere an der Tastatur. Briefe, Emails, Telefonate. Mit Lieferant*innen/mit jenen, die Teile liefern sollten, wegen Lieferengpässen, mit Fertiger*innen/ mit jenen, die andere Bauteile herstellen sollen, über Maßabweichungen, mit Kunden*innen/ mit jenen, die das Endprodukt gekauft haben, über zu erfüllende Punkte auf der Punchlist. Eigenverantwortliches Arbeiten, Gleitzeit, Perfektionismus, Zeitdruck. Die Zeit entgleitet. Samstag. Eine Stunde im Auto. Neun Stunden im Büro. Eine Stunde im Auto zurück nach Hause. Dorthin wo ich hause. Lebe ich denn im Büro?

Früher gab es einmal einen Beruf, der sich Technische*r Zeichner*in nannte. Ein (damals praktisch immer männlicher) Ingenieur entwarf am Zeichentisch mit Bleistift und Lineal neue Maschinen- und Anlagenteile. Und eine Handvoll Technischer Zeichner*innen machte daraus die Fertigungspläne für die Produktion – mit Tusche auf Transparentpapier. Eine Sekretärin kümmerte sich um die Korrespondenz: mit den Kund*innen, mit den Lieferant*innen, mit den Fertiger*innen.

Doch dann hielt der Computer Einzug in diese Biosphäre, in diesen Mikrokosmos, in diese technische Nahrungskette. Der Zeichentisch wurde ersetzt durch Zeichentabletts, durch Digitizer genannte Mäuse mit Lupe. Alles ging plötzlich schneller und besser – zumindest in der Theorie. Aber dort, wo die moderne Hardware die aktuelle Software spielend multitasked, kommt die Brainware nicht mehr hinterher.

 

Tinnitus aurium, das Klingeln der Ohren, ICD-10 H93.1.

 

Fragmentierte Zeit

Die Zeitintervalle für das Überprüfen der Emails, die Erinnerungsgeräusche des elektronischen Terminkalenders, das Schrillen des Telefons. Das Firmenfestnetz, das Privathandy – eins von der Firma? Nein, danke! – oh, nein! Es war doch die Baustellenleitung per Skype – seit wann ist das auf meinem Rechner installiert? Danke IT! Eine Zigarette raucht sich von selbst im Aschenbecher. Verdammt, der Technische Einkäufer sollte schon vor zwei Stunden ausgeplottete Pläne bekommen haben. Hmm, eine Email vom Kollegen mit Schmuddelkram, muss das sein? Hatte ich mir nicht gerade eine Zig… Sh… Meeting verpeilt! Was, noch ein Projekt parallel? Seit ihr wa….?!? Hunger… oh… das gelieferte Mittagessen ist seit fünf Stunden kalt. Ok, ja: ich komme mit in dein Büro. Nein, ich kann nicht noch dein halbes Projekt mitübernehmen. Was, es ist schon acht Uhr? Also wenn ich den heute nicht mehr erreiche, dann kann ich auch gleich heimfahren… Ich bin der letzte im Büro. Computer aus, Absaugung aus. Wow, so laut war das den ganzen Tag?

Die Pausenglocke unterbricht den Lehrstoff, die Werbepause den filmischen Spannungsbogen, die Ampelintervalle den Verkehrsfluss… und das Läuten des Telefons meine Berechnungen einer tragenden Blechkonstruktion. Fragmentierung – Vertaktung. Pausenglocken, Werkssirenen, Weckerticken, Terminerinnerung. Vertaktete Zeit ist laut. Genau wie mein Büro.

Endlich Ruhe?

Ich habe mir zuhause im kaum genutzten Raum ein Meditationszimmer eingerichtet. Tageslicht, keine Elektronik im Raum. Die Verkehrsgeräusche sind am Sonntag harmlos. Zeit für mich, endlich Ruhe. Kontemplation. Versenkung. Meditativer Zustand… Doch wo kommt dieser Pfeifton her? Das stört mich schon… Ich kann aber nichts finden. Ist es da drüben jetzt lauter oder leiser? Und warum höre ich diesen Ton immer noch, wenn ich mir die Ohren zuhalte? Oh! Scheiße!

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© staude 2015

Tinnitus aurium, das Klingeln der Ohren, ICD-10 H93.1. Ein Pfeifen, das nur mir gehört. Wirklich nur mir? 25% der Bevölkerung der sogenannten Industrieländer ist irgendwann in ihrem Leben mit Ohrgeräuschen konfrontiert. In Deutschland müssen 15% der älteren Bevölkerung damit leben, ständig und andauernd ein Geräusch wahrzunehmen, dass eigentlich nicht Teil der akustischen Umwelt ist. Lange dachten medizinische Expert*innen, Tinnitus würde im Innenohr entstehen, doch bleibt dieses Geräusch auch nach dem Durchtrennen des Hörnervs bestehen. Inzwischen gehen Neurowissenschafter*innen davon aus, dass es sich bei Tinnitus (infolge von Hörstörungen) ähnlich verhält wie bei Phantomschmerzen: das Gehirn kompensiert eine Hörstörung und reguliert die Aktivität der zentralen Hörbahn hoch – eine Fehlschaltung. Tinnitus ist wie das Brummen einer voll aufgedrehten Lautsprecherbox zwischen zwei Musikstücken – doch Stecker ziehen hilft hier nicht.

 

Wie Maden durch verfaulendes Fleisch wühlen sich die Bauarbeiter*innen mit ihren lärmenden Maschinen durch das Gerippe eines ehemaligen Wohnhauses.

 

Tinnitus. Was nun? Was tun?

Tinnitus ist ein Symptom, keine Krankheit. Die Ursachen für das Hörgeräusch sind vielfältig. Ein Knall kann der Auslöser gewesen sein oder eine Entzündung im Mittelohr. Eine falsche Bisslage oder Durchblutungsprobleme. Autoimmunerkrankung, Tauchunfälle, unaussprechliche Erkrankungen des Mittelohrs oder einfach ein Fremdkörper im Gehörgang. Das Symptom ist leicht diagnostiziert, das eigentliche Problem das dahinter steckt häufig nicht. Behandlung wird damit zur Symptombekämpfung: Durchblutungsfördernde Maßnahmen sollen einem geschädigten Hörnerv helfen, sich zu regenerieren. Geräuschquellen wie Zimmerbrunnen lassen die störenden Frequenzen in einem Geräuschteppich verschwinden. Und Stimmungsaufheller sollen die depressiven Verstimmungen – eine Folge der nervtötenden Geräusche – bekämpfen.

Tinnitus Illustration

© staude 2015

Ein anderer Weg bietet sich für Menschen an, die gerne Musik hören. Das Hamburger Startup Sonormed bietet Musikstücke bzw. das Nachbearbeiten von solchen an, aus denen – für jede Klient*in individuell – bestimmte Frequenzen herausgefiltert wurden. Tinnitracks heißt dieser Dienst, der so funktioniert: Die Tinnitus verursachenden Neuronen werden gehemmt, indem ihre Nachbarzellen mit den gefilterten Klängen stimuliert und damit trainiert werden. Leider ist Tinnitracks nicht gerade billig. Eine Lizenz über zwölf Monate kostet mehr als 500 Euro. In diesem Zeitraum können allerdings beliebig viele Musikstücke therapeutisch gefiltert werden und stehen auch nach Ablaufen der Lizenz noch zur Verfügung.

Tinnitus. What else?

Das Wäh-Wäh-Wäh des Weckers oder der nervige Kratky. Ach, wie gerne würde ich von einer der beiden Varianten geweckt werden! Doch seit einigen Wochen darf ich mir aussuchen, ob ich in den Sommermonaten lieber in meinem Schlafzimmer erschwitze und erstinke… oder doch lieber von den Erschütterungen eines Presslufthammers aus dem Schlaf gerissen werde. Punkt Sieben – also noch mitten in der Nacht – geht es los. Wie Maden durch verfaulendes Fleisch wühlen sich die Bauarbeiter*innen mit ihren lärmenden Maschinen durch das Gerippe eines ehemaligen Wohnhauses. Genau gegenüber! Und gleich daneben – eigentlich noch im Kreuzungsbereich zweier Wohnstraßen – hat sich ein*e Großhändler*in für Elektrogeräte eine Ladezone eingerichtet: zuschlagende Bordwände, laufen gelassene Dieselmotoren. Ach, wenn das nur alles wäre. Die rangierenden LKWs blockieren regelmäßig den Verkehr: Autohupen, Straßenbahnklingeln, das Piepen einer Rückfahrsirene.

Und ist es am Abend dann endlich still da draußen, dann bleibt sie dennoch aus: die Stille in meinem Kopf. Piiiiiiieeeep! Aaaaarrrrggghhhh!

 

Weiterführende Links:

Gesundheitsberichtserstattung des [Deutschen] Bundes: Hörstörungen und Tinitus:
www.gbe-bund.de/pdf/heft29_und_Wertetabellen.pdf

Homepage von Sonormed und Tinnitracks:
www.tinnitracks.com/

 

Dieser Text erschien erstmals in der Paradigmata – Zeitschrift für Menschen und Diskurse Vol.12.

Paradigmata Lektion1

Die großen Fragen der Menschheit…

… lauten:

  1. Wie kauft mensch eine Paradigmata?
  2. Wie liest mensch eine Paradigmata?

Und um euch nicht länger auf die Folter zu spannen, hier die Antworten:

Die beiden Videos entstanden als Projektarbeit für meine Ausbildung zum Creative Video Designer beim WIFI Wien.

Schauspielerin: Johanna Mangold
Assistentin und Handmodell: Ulrike Stich
Musik: Kevin MacLeod

Paradigmata – Zeitschrift für Menschen und Diskurse ist ein Magazin mit Geistes- und Sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt, das versucht einzelne Themen aus verschiedensten oft auch ungewöhnlichen Blickwinkeln zu betrachten. Oder mit den Worten der Paradigmata HP:

„PARADIGMATA betrachtet die Zusammenhänge der verschiedenen Facetten des menschlichen Lebens. Als Kind der Anthropologie ist sie eine Denkerin, eine bekennende Pluralistin, die sich mehr als nur einer Strömung verpflichtet fühlt und aus Kontroversen verschiedenster Disziplinen neue Perspektiven eröffnen will. Mensch liest sie gerne in den Ruhepausen des Lebens, um dadurch ihre Inhalte besser reflektieren zu können. Sie dient aber ebenso der Unterhaltung: durch so manche angriffslustige und sarkastische Kommentare ist sie beliebt, schreckt aber auch nicht davor zurück, sich unbeliebt zu machen. PARADIGMATA liefert eine Vielfalt an Perspektiven auf Gewöhnliches und Außergewöhnliches aus den – und jenseits der – Wissenschaften.“

WBC Anhänger

God hates fa(n)gs

Rezension der TV-Serie True Blood

Als eine japanische Firma synthetisches Blut auf den Markt bringt, nutzen die Vampire diese Gelegenheit ihre Existenz zu enthüllen und gleichzeitig Bürger_innenrechte einzufordern. Als Reaktion schlägt ihnen eine jahrhundertealte Welle von Ängsten und Vorurteilen entgegen, besonders in den US-amerikanischen Südstaaten, dem Ort der Handlung der Serie True Blood. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Kellnerin Sookie Stackhouse (Anna Paquin), die ihre telepathischen Fähigkeiten mehr als Fluch denn als Gabe betrachtet. Anderer Leute (schmutzige) Gedanken zu lesen, erschwert es ungemein, sich auf eine Beziehung einzulassen. An Vampiren funktioniert diese Fähigkeit nicht, nicht nur deshalb fühlt sich Sookie vom untoten Bill Compton (Stephen Moyer) angezogen. In Folge dessen gerät sie tief hinein in Machtkämpfe von uralten Vampiren und jener kirchlichen Gruppen, die diese vernichten möchten.

TrueBloodSeason3

True Blood Poster, Season3, ©HBO

In der Serie wird für Vampire das Schimpfwort Fangs (Reißzähne) benutzt. Fang-Banger sind jene, die sich für sexuelles Vergnügen von ihnen beißen lassen. „God Hates Fangs“, diese Worte zeigt ein Kirchenschild im Vorspann der Serie. Ein Spruch direkt entliehen von den verbalen Diskriminierungen, die in den amerikanischen Südstaaten leider zum Alltag gehören: „God Hates Fags“ ist der bekannteste Slogan der Westboro Baptist Church (WBC) und der Name einer mit dieser Kirche verknüpften Homepage. Fag wird im Amerikanischen als Schimpfwort für homosexuelle Männer verwendet und steht hier stellvertretend für alle Formen von „Unzucht, Sodomie und Ehebruch“. Doktrin der WBC ist, dass Gott nicht alle liebt. Schwule beispielsweise hasst er, deshalb wurden schon Sodom und Gomorra vernichtet.

WBC Anhänger

Anhänger der Westboro Baptist Church demonstrieren vor dem Virginia Holocaust Museum. Foto: JCWilmore, CC BY 3.0

True Blood ist voll von Metaphern der Schwierigkeiten von LGBTIQs in der (amerikanischen) Gesellschaft und ihrem Kampf für gleiche Rechte: Die Selbstenthüllung der Existenz von Vampiren wird z.B. als „coming out of the coffin“ bezeichnet. Homophobie findet ihre Parallelen in der Angst vor Vampiren: sie sind gefährlich, sie leben als Parasiten innerhalb der menschlichen Gesellschaft. „Gute Vampire“ sind solche, die ihren Appetit nach Blut und Sex in Zaum halten können, „böse Vampire“ töten, trinken Blut und sind sexsüchtig. Auf LGBTIQs umgelegt, zeigt sich allerdings die Gefährlichkeit solcher Vergleiche.

True Blood basiert auf der Romanreihe The Southern Vampire Mysteries von Charlaine Harris, beginnt aber spätestens mit der zweiten Staffel stark davon abzuweichen. Wird in Twilight „ewige Liebe“ romantisiert, so ist True Blood angefüllt von Sex, Gewalt, derber Sprache und viel, viel Blut. Dabei entsteht Humor sehr häufig an der Schnittstelle von derber Wortwahl und Südstaatendialekt. Eine der lustigsten (und gleichzeitig tiefgründigsten) Szenen der ersten Staffel ist die Reaktion des schwulen Kochs Lafayette (Nelsan Ellies) auf die Aussage „the burger might have aids”.

True Blood ist in erster Linie eine Unterhaltungsserie produziert von HBO, der sich als Abonnement-Sender nicht staatlicher Zensur unterwerfen muss und der sich sehr eindeutig an ein erwachsenes Publikum richtet. Die Serie wird ab Februar 2011 auch im deutschsprachigen FreeTV ausgestrahlt, mit starker Zensur und einer Synchronisation, die nicht an das amerikanische Original heranreicht, ist allerdings zu rechnen. An den vierten Staffel wird aktuell gearbeitet.

* Dieser Text erschien erstmalig in der Paradigmata – Zeitschrift für Menschen und Diskurse, Vol. 3