The Sound of Silence – Tinnitus & der Verlust der Stille

Tinnitus Illustration
© staude 2015
Lesedauer: 4 Minuten

Eine Vorgeschichte

Neun Stunden im Büro, manchmal zehn, manchmal zwölf. Die nicht wirklich ergonomische Körperhaltung eines Maschinenbaukonstrukteurs: eine Hand immer an der Maus, die andere an der Tastatur. Briefe, Emails, Telefonate. Mit Lieferant*innen/mit jenen, die Teile liefern sollten, wegen Lieferengpässen, mit Fertiger*innen/ mit jenen, die andere Bauteile herstellen sollen, über Maßabweichungen, mit Kunden*innen/ mit jenen, die das Endprodukt gekauft haben, über zu erfüllende Punkte auf der Punchlist. Eigenverantwortliches Arbeiten, Gleitzeit, Perfektionismus, Zeitdruck. Die Zeit entgleitet. Samstag. Eine Stunde im Auto. Neun Stunden im Büro. Eine Stunde im Auto zurück nach Hause. Dorthin wo ich hause. Lebe ich denn im Büro?

Früher gab es einmal einen Beruf, der sich Technische*r Zeichner*in nannte. Ein (damals praktisch immer männlicher) Ingenieur entwarf am Zeichentisch mit Bleistift und Lineal neue Maschinen- und Anlagenteile. Und eine Handvoll Technischer Zeichner*innen machte daraus die Fertigungspläne für die Produktion – mit Tusche auf Transparentpapier. Eine Sekretärin kümmerte sich um die Korrespondenz: mit den Kund*innen, mit den Lieferant*innen, mit den Fertiger*innen.

Doch dann hielt der Computer Einzug in diese Biosphäre, in diesen Mikrokosmos, in diese technische Nahrungskette. Der Zeichentisch wurde ersetzt durch Zeichentabletts, durch Digitizer genannte Mäuse mit Lupe. Alles ging plötzlich schneller und besser – zumindest in der Theorie. Aber dort, wo die moderne Hardware die aktuelle Software spielend multitasked, kommt die Brainware nicht mehr hinterher.

 

Tinnitus aurium, das Klingeln der Ohren, ICD-10 H93.1.

 

Fragmentierte Zeit

Die Zeitintervalle für das Überprüfen der Emails, die Erinnerungsgeräusche des elektronischen Terminkalenders, das Schrillen des Telefons. Das Firmenfestnetz, das Privathandy – eins von der Firma? Nein, danke! – oh, nein! Es war doch die Baustellenleitung per Skype – seit wann ist das auf meinem Rechner installiert? Danke IT! Eine Zigarette raucht sich von selbst im Aschenbecher. Verdammt, der Technische Einkäufer sollte schon vor zwei Stunden ausgeplottete Pläne bekommen haben. Hmm, eine Email vom Kollegen mit Schmuddelkram, muss das sein? Hatte ich mir nicht gerade eine Zig… Sh… Meeting verpeilt! Was, noch ein Projekt parallel? Seit ihr wa….?!? Hunger… oh… das gelieferte Mittagessen ist seit fünf Stunden kalt. Ok, ja: ich komme mit in dein Büro. Nein, ich kann nicht noch dein halbes Projekt mitübernehmen. Was, es ist schon acht Uhr? Also wenn ich den heute nicht mehr erreiche, dann kann ich auch gleich heimfahren… Ich bin der letzte im Büro. Computer aus, Absaugung aus. Wow, so laut war das den ganzen Tag?

Die Pausenglocke unterbricht den Lehrstoff, die Werbepause den filmischen Spannungsbogen, die Ampelintervalle den Verkehrsfluss… und das Läuten des Telefons meine Berechnungen einer tragenden Blechkonstruktion. Fragmentierung – Vertaktung. Pausenglocken, Werkssirenen, Weckerticken, Terminerinnerung. Vertaktete Zeit ist laut. Genau wie mein Büro.

Endlich Ruhe?

Ich habe mir zuhause im kaum genutzten Raum ein Meditationszimmer eingerichtet. Tageslicht, keine Elektronik im Raum. Die Verkehrsgeräusche sind am Sonntag harmlos. Zeit für mich, endlich Ruhe. Kontemplation. Versenkung. Meditativer Zustand… Doch wo kommt dieser Pfeifton her? Das stört mich schon… Ich kann aber nichts finden. Ist es da drüben jetzt lauter oder leiser? Und warum höre ich diesen Ton immer noch, wenn ich mir die Ohren zuhalte? Oh! Scheiße!

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Tinnitus aurium, das Klingeln der Ohren, ICD-10 H93.1. Ein Pfeifen, das nur mir gehört. Wirklich nur mir? 25% der Bevölkerung der sogenannten Industrieländer ist irgendwann in ihrem Leben mit Ohrgeräuschen konfrontiert. In Deutschland müssen 15% der älteren Bevölkerung damit leben, ständig und andauernd ein Geräusch wahrzunehmen, dass eigentlich nicht Teil der akustischen Umwelt ist. Lange dachten medizinische Expert*innen, Tinnitus würde im Innenohr entstehen, doch bleibt dieses Geräusch auch nach dem Durchtrennen des Hörnervs bestehen. Inzwischen gehen Neurowissenschafter*innen davon aus, dass es sich bei Tinnitus (infolge von Hörstörungen) ähnlich verhält wie bei Phantomschmerzen: das Gehirn kompensiert eine Hörstörung und reguliert die Aktivität der zentralen Hörbahn hoch – eine Fehlschaltung. Tinnitus ist wie das Brummen einer voll aufgedrehten Lautsprecherbox zwischen zwei Musikstücken – doch Stecker ziehen hilft hier nicht.

 

Wie Maden durch verfaulendes Fleisch wühlen sich die Bauarbeiter*innen mit ihren lärmenden Maschinen durch das Gerippe eines ehemaligen Wohnhauses.

 

Tinnitus. Was nun? Was tun?

Tinnitus ist ein Symptom, keine Krankheit. Die Ursachen für das Hörgeräusch sind vielfältig. Ein Knall kann der Auslöser gewesen sein oder eine Entzündung im Mittelohr. Eine falsche Bisslage oder Durchblutungsprobleme. Autoimmunerkrankung, Tauchunfälle, unaussprechliche Erkrankungen des Mittelohrs oder einfach ein Fremdkörper im Gehörgang. Das Symptom ist leicht diagnostiziert, das eigentliche Problem das dahinter steckt häufig nicht. Behandlung wird damit zur Symptombekämpfung: Durchblutungsfördernde Maßnahmen sollen einem geschädigten Hörnerv helfen, sich zu regenerieren. Geräuschquellen wie Zimmerbrunnen lassen die störenden Frequenzen in einem Geräuschteppich verschwinden. Und Stimmungsaufheller sollen die depressiven Verstimmungen – eine Folge der nervtötenden Geräusche – bekämpfen.

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Ein anderer Weg bietet sich für Menschen an, die gerne Musik hören. Das Hamburger Startup Sonormed bietet Musikstücke bzw. das Nachbearbeiten von solchen an, aus denen – für jede Klient*in individuell – bestimmte Frequenzen herausgefiltert wurden. Tinnitracks heißt dieser Dienst, der so funktioniert: Die Tinnitus verursachenden Neuronen werden gehemmt, indem ihre Nachbarzellen mit den gefilterten Klängen stimuliert und damit trainiert werden. Leider ist Tinnitracks nicht gerade billig. Eine Lizenz über zwölf Monate kostet mehr als 500 Euro. In diesem Zeitraum können allerdings beliebig viele Musikstücke therapeutisch gefiltert werden und stehen auch nach Ablaufen der Lizenz noch zur Verfügung.

Tinnitus. What else?

Das Wäh-Wäh-Wäh des Weckers oder der nervige Kratky. Ach, wie gerne würde ich von einer der beiden Varianten geweckt werden! Doch seit einigen Wochen darf ich mir aussuchen, ob ich in den Sommermonaten lieber in meinem Schlafzimmer erschwitze und erstinke… oder doch lieber von den Erschütterungen eines Presslufthammers aus dem Schlaf gerissen werde. Punkt Sieben – also noch mitten in der Nacht – geht es los. Wie Maden durch verfaulendes Fleisch wühlen sich die Bauarbeiter*innen mit ihren lärmenden Maschinen durch das Gerippe eines ehemaligen Wohnhauses. Genau gegenüber! Und gleich daneben – eigentlich noch im Kreuzungsbereich zweier Wohnstraßen – hat sich ein*e Großhändler*in für Elektrogeräte eine Ladezone eingerichtet: zuschlagende Bordwände, laufen gelassene Dieselmotoren. Ach, wenn das nur alles wäre. Die rangierenden LKWs blockieren regelmäßig den Verkehr: Autohupen, Straßenbahnklingeln, das Piepen einer Rückfahrsirene.

Und ist es am Abend dann endlich still da draußen, dann bleibt sie dennoch aus: die Stille in meinem Kopf. Piiiiiiieeeep! Aaaaarrrrggghhhh!

 

Weiterführende Links:

Gesundheitsberichtserstattung des [Deutschen] Bundes: Hörstörungen und Tinitus:
www.gbe-bund.de/pdf/heft29_und_Wertetabellen.pdf

Homepage von Sonormed und Tinnitracks:
www.tinnitracks.com/

 

Dieser Text erschien erstmals in der Paradigmata – Zeitschrift für Menschen und Diskurse Vol.12.

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