Müll

Eine Kreislaufwirtschaft der Zukunft

Ich möchte diesem Text einen Imperativ voranstellen. Wir leben in einer Zeit der Bewusstwerdung: Wir haben nur diesen einen gemeinsamen Planeten mit begrenzten Ressourcen. All unser Handeln hat ein Einfluss auf die Ökosysteme und das Klima. Der Schaden, den wir im Moment anrichten (Stichworte: Raubbau an der Natur und CO2-Fußabdruck), kann im schlimmsten Fall nicht nur alle Menschen im Jetzt betreffen, sondern auch künftige Generationen. Deshalb müssen wir endlich verstärkt beginnen, in Grenzen und Kreisläufen zu denken, und auch nur das produzieren, das wir auch wirklich brauchen! 

Grundkonzepte

Eine moderne Abfall- und Kreislaufwirtschaft greift diesen Gedanken auf und orientiert sich an den Fünf Grundregeln der Nachhaltigen Entwicklung. Wenn erneuerbare Ressourcen nur noch in dem Umfang verbraucht werden dürfen, wie sie sich regenerieren können (Regenerationsregel), und nicht erneuerbare in dem Umfang, wie sie durch erneuerbare ersetzt werden können (Substitutionsregel), dann verwandelt sich Raubbau in zukunftsorientiertes Handeln. Gleichzeitig darf die Abgabe von problematischen Stoffen in Luft, Wasser, Boden die Regenerations- und Selbstreinigungsfähigkeit der jeweiligen Biome nicht überfordern (Schadstoffregel). Jede Veränderung, jede Belastung muss das zeitliche Anpassungsvermögen mit einbeziehen (Zeitregel), damit natürliche Kreisläufe nicht zu kippen beginnen. Die Risikoregel besagt, dass die menschliche Gesundheit durch Umweltbelastungen nicht gefährdet werden darf. Ich würde dieses Prinzip – so weit möglich – gerne auf sämtliches Leben auf diesem Planeten ausdehnen. [1]

Gemälde von Lord Palmerston

Henry John Temple, 3rd Viscount Palmerston (1784-1865), britische National Portrait Galery

Die Klassische Abfallwirtschaft hat versucht die Probleme zu lösen, die Abfall verursacht. Ihr modernes Gegenstück versteht Abfall als Wertstoff, der bestmöglich in den Produktionskreislauf zurückgeführt werden muss. Oder wie schon Lord Palmerston sagte: “[…] dirt is only matter in the wrong place”. Österreich bewegt sich dabei im Rahmen nationaler und europäischer Gesetzestexte. [2] 

Das novellierte Abfallwirtschaftsgesetz [3] sieht eine fünfstufige Hierarchie für die Behandlung von Abfällen vor: beginnend bei Vermeidung, über Wiederverwendung und Recycling, bis hin zur möglichst zu vermeidenden Verwertung und Beseitigung. 

Deponiert (Beseitigung) werden nur mehr Abfälle mit weniger als 5% Kohlenstoff: überwiegend Problemstoffe, Bauaushub und Verbrennungsrückstände. Organischer Abfall wird recycelt, downcycelt, kompostiert oder zumindest thermisch verwertet. Was wiederverwendet wird, muss nicht (sofort) recycelt werden – so ist zum Beispiel der Altwarenmarkt (Secondhandmarkt) der Wiener MA48 zu verstehen. Noch besser ist natürlich Abfall, der nie entsteht, unabhängig davon, ob der Grund der Vermeidung nun Konsumverzicht oder ressourcensparendes Design ist. 

Aber egal wie ausgefeilt ein Konzept zur Abfallbehandlung ist, es steht und fällt mit den Menschen, die diesen Abfall produzieren. Deshalb ist Bildung so auch zentral: Die Menschen müssen den Zweck des gerade in Grundzügen Beschriebenen verstehen. Dazu bedarf es bereits einer schulischen Aufklärung über den Sinn einer geordneten Abfallwirtschaft und eines Basiswissens in Ressourcenschonung und Abfalltrennung. 

Metallrad

Das Metallrad, der Treiber der Circular Economy (Reuter et al. 2019) | CC-BY-SA-4.0

Müll braucht Markt

Eine moderne Abfall- und Kreislaufwirtschaft kann nur funktionieren, wenn es für die Sekundärrohstoffe auch gesicherte Vermarktungswege gibt. Hier hilft eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche: Pull-Effekte entstehen durch Förderung des Recyclingmarkts (Erleichterungen bei Zöllen, Steuern oder durch Subventionen), Push-Effekte durch Verpflichtungen der Hersteller zur Sicherstellung eines Recyclings ihrer Produkte. Ein Freikaufen der Firmen von dieser Pflicht ist dabei nicht unbedingt nachteilig, weil dann Spezialisten einspringen, die das potentiell viel effizienter und großflächiger hinbekommen. 

Apropos Vermarktung: Lokale Abnehmerstrukturen sind eine zentrale Stütze für die Kreislaufwirtschaft. Mit der gesicherten Bereitstellung von hochwertigen Sekundärrohstoffen profitieren auch industrielle Abnehmer, die durch Anpassung ihrer Produktionsprozesse die Kreislaufwirtschaft erst möglich machen, weil sich dort der (technische) Kreis schließen kann. [4]

Ohne Sortierung keine Kreislauffähigkeit

PET-Flaschen

Recycling von Pet-Flaschen, Foto: Martin Abegglen, CC BY-SA 2.0

Damit Abfall wieder hochwertiger Rohstoff werden kann, ist Sortenreinheit erstes Gebot. Im Rest- und Recyclingmüll landen z.B. hunderte verschiedene Arten von Kunststoffen. Wiedereinschmelzen lassen sich davon nur Thermoplaste. Elastomere und Duroplaste aufgrund ihrer spezifischen Gitterstruktur leider nicht. Vielfach verwendete Thermoplaste wie PET, PP, PE, PS oder PVC haben zudem Schmelzpunkte die stark variieren, nämlich zwischen 90°C und 210°C. Ein Kunststoffgemisch kann deshalb nur zu sehr bescheidenen Produkten verarbeitet werden (Downcycling) oder landet gleich in der thermischen Verwertung. 

Wenn zum Beispiel eine Einweg-PET-Flasche wieder zu einer neuen werden soll [5], dann geht es nicht ohne etwas Mühe im Vorfeld. Das wäre einerseits Disziplin bei Sammeln und Einwerfen der alten Verpackungen in die richtigen Recyclingtonnen – eine Sammelinfrastruktur, die smart mit den Verwertungsbetrieben zusammenarbeitet vorausgesetzt – oder andererseits eine aufwendige Aufbereitung und Sortierung des nicht so sauber getrennten Abfalls (manuelles Aussortieren, sensorgesteuerte Auslese, Schwimm-Sink-Verfahren usw). 

Und wenn dann schließlich der Kunststoff sortenrein als PET(-Flasche) vorliegt, dann folgt gleich die nächste Herausforderung: die Sortierung nach Farben. Weil nur farbloses PET kann wieder zu klaren Flaschen verarbeitet werden. Ist die Flasche grün oder blau, dann ist nur mehr die gleiche Farbe oder ein Downcycling entsprechend subtraktiver Farbmischung möglich. An dieser Stelle zeigt sich abermals, wie nachhaltig beim Design der PET-Flasche gedacht wurde. 

Ein paar Worte zum Schluss

Und hier wären wir wieder bei den einleitenden Gedanken dieses Essays: Denken in Grenzen, Denken in Kreisläufen und die Bereitschaft zu Verzicht auf umwelt- und klimasündiges Handeln, auch wenn es liebgewonnene Gewohnheiten betrifft. Als kleine Visualisierungshilfe empfehle ich hierfür Kate Raworths Doughnut Economics.

Doughnut Economics

Ein neues Verständnis für zirkulärer Ökonomie: Denken in Grenzen und Grundbedürfnissen. Doughnut Economics. Kate Raworth, CC-BY-SA-4.0

1 Die Managementregeln der Nachhaltigkeit wurden erstmals 1990 vom Ökonomen Herman Daly formuliert. Die überarbeiteten fünf, hier verwendeten Umweltregeln stammen von der zweiten Enquete-Kommission (1994-98) des Deutschen Bundestags.

2 Österreichische Verpackungsverordnung 2014 (BGBl. II Nr. 184/2014), Thematische Strategie für Abfallvermeidung und -recycling (KOM(2005) 666 endgültig)Europäische Abfallrahmenrichtlinie 2008 (Richtlinie 2008/98/EG) und weitere.

3 Änderung des Abfallwirtschaftsgesetzes 2002 (AWG-Novelle 2010, BGBl. I Nr. 9/2011)

4 Eine moderne Abfallwirtschaft- Wege und Ziel. German Recycling Technologies and Waste Management Partnership e.V. Berlin, 2018. https://www.retech-germany.net

5 In Österreich stellen u.a. rePET (Vöslauer) oder PET to PET (Coca-Cola) 100-prozentiges PET-Recyklat her.

Injektion

Neue Erkenntnisse bei der Behandlung von Rheumatoider Arthritis in Österreich

Die österreichische Kohorte der Beobachtungsstudie ACTION bestätigte gute klinische Ergebnisse und hohe Therapietreue bei der Behandlung von rheumatoider Arthritis (RA) mit dem Biologikum Abatacept. Gleich zu Studienbeginn wiesen biologikanaive Patienten einen geringeren Einsatz von Begleitmedikation und eine kürzere Krankheitsdauer als die Patienten mit vorausgehendem Biologikatherapieversagen auf. Die österreichspezifische, proaktive Behandlungspraxis zeigte sich in den guten klinischen Ergebnissen in einem frühen Stadium der Erkrankung.

Injektion

Foto: Christian Emmer

Beobachtungsstudie über 2 Jahre, Vergleich der österreichischen Kohorte

„Long Term Experience With Abatacept in Routine Clinical Practice“ (ACTION, NCT02109666) war eine internationale, klinische Beobachtungsstudie über zwei Jahre an Patienten mit mittel- bis schwergradiger rheumatoider Arthritis, die mit dem Biologikum Abatacept behandelt wurden. Im Zeitraum Mai 2008 bis Dezember 2013 nahmen neben Österreich elf weitere europäische Länder sowie Kanada daran teil. Therapieansprechraten wurden gemäß EULAR-Kriterien (European League Against Rheumatism) festgehalten.

Ein Artikel von Peter Peichl et al in der Wiener Medizinischen Wochenschrift verglich die Ausgangsdaten, die Therapietreue und die klinischen Ergebnisse in Hinsicht auf die Therapielinie der österreichischen Kohorte mit den Ergebnissen der Gesamtstudie.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen nach Analyse der Daten

Von den ursprünglich 100 österreichischen Patenten waren 98 auswertbar. Bei 65 (66,3 %) hatte zumindest eine vorherige Biologikatherapie versagt, 33 (33,7 %) waren biologikanaiv. Dabei wiesen zu Studienbeginn die biologikanaiven Patienten eine kürzere Krankheitsdauer auf als die jene mit Biologikaversagen, ebenso war ein geringerer Kortikosteroideinsatz bei ersteren nötig.

Nach zwei Jahren Beobachtungszeit wurden noch immer 60,5 % der österreichischen Studienteilnehmer mit Abatacept behandelt (rohe Gesamttherapietreuerate), wobei die Therapietreuerate bei biologikanaiven Patienten (65,1 %) höher lag als bei Patienten mit Biologikatherapieversagen (58,0 %).

EULAR-Ansprechen* über 2 Jahre nach Therapielinie in der österreichischen Kohorte der ACTION; *EULAR-Ansprechen basierend auf DAS28 (ESR, sonst CRP); CRP C-reaktives Protein, DAS28 Disease Activity Score in 28 Gelenken, ESR Erythrozytensedimentationsrate, EULAR European League Against Rheumatism

Die klinischen Ergebnisse nach diesen zwei Jahren sind ebenso vielversprechend: Gemäß der EULAR-Kriterien, basierend auf dem DAS28-System, sprachen 85,7 % der Biologikanaiven mittelmäßig oder gut auf die Therapie an, bei den Patienten mit vorherigem Biologikaversagen sogar 100 %.

Im direkten Vergleich mit den anderen teilnehmenden Ländern der ACTION-Studie fielen besonders die guten Ansprechraten, kürzeren Krankheitsdauern und geringere Begleitmedikation gleich zu Beginn der Behandlung der biologikanaiven Patentienten auf. Bei der Ursachenforschung hilft ein Blick auf die Besonderheiten des österreichischen Krankensystems: Der Zugang zu Biologika ist vergleichsweise gut. Patienten mit rheumatoider Arthritis werden hier früher mit Biologika behandelt als in anderen Ländern der Studie, was sich positiv auf die Krankheitsverläufe auswirkt.

Links:

Alten R et al. (2017): Long Term Experience With Abatacept in Routine Clinical Practice (ACTION)

Peichl P et al. (2019): Abatacept retention and clinical outcomes in Austrian patients with rheumatoid arthritis: real-world data from the 2-year ACTION study

Illustration Gersthofer Platzl

Zankapfel Gersthofer Platzl

Gersthofer Platzl nennt sich das Areal um die S-Bahn-Station Gersthof im Zentrum des Bezirks Währing. Grundlegende Bedürfnisse des Lebensraums Großstadt werden an dieser Stelle sichtbar: Das Platzl ist zugleich Knotenpunkt des öffentlichen Nahverkehrs und liegt an einer stark befahrenen Straße der westlichen Peripherie, die sich mit einem Radweg und einer Bushaltestelle um die Fahrbahnen streiten muss. Dauerhafte Markthäuschen, Imbissrestaurants und Geschäfte laden zum Verweilen ein. Gleich daneben wartende Fahrgäste, welche die Gehsteige zu einem Slalom Parcours umformen. Diese Mehrfachnutzung ist der Kern des Dilemmas, mit dem die Raumplanung konfrontiert ist.

Gersthofer Platzl

Markt- und Kreuzungsbereich des Gersthofer Platzls

Lange war Währing eine Hochburg konservativer Bezirkspolitik, von 1946 bis 2015 stellte die ÖVP ununterbrochen den Bezirksvorsteher. Seit die Grüne Silvia Nossek das Amt übernommen hat, haben sich die Schwerpunkte öffentlicher Raumnutzung verändert: Parkpickerl, Radwege und mehr städtisches Grün, um es kurz zu machen. Nach der Umgestaltung der äußeren Währinger Straße vor zwei Jahren sollte das Gersthofer Platzl den aktuellen Bedürfnissen angepasst werden. Die Agenda-Gruppe „Lebenswertes Gersthof“ befragte die BürgerInnen des Bezirks und stellte die Ergebnisse Ende 2018 im örtlichen Pfarrsaal vor.

Die vorgesehene Begrünung entlang der Gersthofer Straße bedeutet mehr Platz für FußgängerInnen, Fahrräder und Gäste der Gastronomie. Der Haken bei diesem Plan: weniger Fahrspuren. Die Gersthofer Straße ist bereits jetzt an der Kapazitätsgrenze während der Stunden des Berufs- und Pendlerverkehrs – auch wenn jüngste Erhebungen von einem leichten Rückgang sprechen. Nach der Bürgerbeteiligung vermeintlich in trockenen Tüchern, kam das böse Erwachen für die grüne Raumplanung – trotz Förderzusage durch die Stadt Wien. Im Finanzausschuss Ende 2019 stimmten SPÖ, ÖVP und FPÖ dagegen und brachten mit ihrer Stimmenmehrheit die Umbaupläne ins Wanken.

Illustration Gersthofer Platzl

Die Umbaupläne der Agenda-Gruppe von 2018

„Es braucht eine bessere Lösung“, äußerte sich SPÖ-Bezirksparteivorsitzender Andreas Höferl im Interview. „Durch unzählige Gespräche und Hausbesuche wissen wir, dass die Mehrheit der Anrainer dem Umbau skeptisch gegenüber steht.“ Deshalb besteht die Bezirks-SPÖ auf eine Bürgerbefragung. Besonders stark kritisiert wird die Verlegung der 10A-Bushaltestelle weg von den Straßenbahnen. ÖVP und FPÖ sorgen sich um die Sicherheit der FußgängerInnen nach dem Kreuzungsumbau und haben massive Bedenken bezüglich weiterer Staubildung. Beim Gegenvorschlag der ÖVP sollen die beiden Fahrspuren Richtung Norden erhalten bleiben. „Radfahrer und Autofahrer können auch gemeinsam auf einem Streifen fahren“, erläutert die ÖVP-Spitzenkandidatin Kasia Greco. „Wir wollen den Fließverkehr nicht stören und dadurch nicht unnötig Staus fördern.“

Also heißt es zurück an den Start mit dem Projekt. Während des Wahlkampf der Wiener Bezirkswahlen 2020 ist der Umbau noch immer ein heißes Thema. Die Grüne Bezirksvorsteherin Silvia Nossek ist sich sicher, dass es bald funktionieren wird: „Die Wiener Linien, Geschäftsleute und Wirtschaftskammer wollen es, die Rückmeldungen waren sehr positiv. 2021 kommt endlich das neue WC – und das neue Platzl schaffen wir auch!“ Den Rücken stärkt ihr dabei die Spitzenkandidatin der Neos, Karin Riebenbauer: „Ich unterstütze die Pläne zur Neugestaltung des Platzls, die unter Beteiligung aller Parteien und der Währinger erarbeitet wurden.“ Wollen wir das Beste hoffen.

Wasserkraft und Nachhaltigkeit

Was macht man eigentlich, wenn man|frau für eine Schreibagentur arbeitet? Naja, Texte schreiben natürlich. Texte? No na net! Aber was heißt das, bitte schön? Und für wen eigentlich? Es handelt sich um textbasierten Content für Businesskunden egal ob digital oder Print, Marketing oder PR, komplette Webportale oder kleine Textbausteine. (Fast) nichts ist zu groß, nichts ist zu klein. Und je ausgefallener und bunter, desto größer wird das eigene Repertoire. Noch immer zu abstrakt? Dann lassen wir hier am besten Beispiele sprechen:

Der Energiekonzern Verbund startete 2018 eine Imagekampagne mit dem Namen "Mein Antrieb. Meine Energie.". Verbund suchte dabei Kontakt zu Menschen in Österreich, die Pionierarbeit in Sachen Nachhaltigkeit leisten. Aus Gesprächen und Einladungen zu Kraftwerksrevisionen entstanden dabei viele kleine Kooperationsprojekte. Diese zeigen wunderbar auf, wie gut ein großes Unternehmen und kleine Entrepreneure zusammenarbeiten können - sobald sie verstanden haben, dass es ihnen um die selbe Sache geht.

Und meine Aufgabe bei der Sache? Ich habe mit einer Reihe dieser Menschen Interviews führen dürfen. Hier einige der Texte, die für den flow-Blog von Verbund entstanden sind:

Tinnitus Illustration

The Sound of Silence – Tinnitus & der Verlust der Stille

Eine Vorgeschichte

Neun Stunden im Büro, manchmal zehn, manchmal zwölf. Die nicht wirklich ergonomische Körperhaltung eines Maschinenbaukonstrukteurs: eine Hand immer an der Maus, die andere an der Tastatur. Briefe, Emails, Telefonate. Mit Lieferant*innen/mit jenen, die Teile liefern sollten, wegen Lieferengpässen, mit Fertiger*innen/ mit jenen, die andere Bauteile herstellen sollen, über Maßabweichungen, mit Kunden*innen/ mit jenen, die das Endprodukt gekauft haben, über zu erfüllende Punkte auf der Punchlist. Eigenverantwortliches Arbeiten, Gleitzeit, Perfektionismus, Zeitdruck. Die Zeit entgleitet. Samstag. Eine Stunde im Auto. Neun Stunden im Büro. Eine Stunde im Auto zurück nach Hause. Dorthin wo ich hause. Lebe ich denn im Büro?

Früher gab es einmal einen Beruf, der sich Technische*r Zeichner*in nannte. Ein (damals praktisch immer männlicher) Ingenieur entwarf am Zeichentisch mit Bleistift und Lineal neue Maschinen- und Anlagenteile. Und eine Handvoll Technischer Zeichner*innen machte daraus die Fertigungspläne für die Produktion – mit Tusche auf Transparentpapier. Eine Sekretärin kümmerte sich um die Korrespondenz: mit den Kund*innen, mit den Lieferant*innen, mit den Fertiger*innen.

Doch dann hielt der Computer Einzug in diese Biosphäre, in diesen Mikrokosmos, in diese technische Nahrungskette. Der Zeichentisch wurde ersetzt durch Zeichentabletts, durch Digitizer genannte Mäuse mit Lupe. Alles ging plötzlich schneller und besser – zumindest in der Theorie. Aber dort, wo die moderne Hardware die aktuelle Software spielend multitasked, kommt die Brainware nicht mehr hinterher.

 

Tinnitus aurium, das Klingeln der Ohren, ICD-10 H93.1.

 

Fragmentierte Zeit

Die Zeitintervalle für das Überprüfen der Emails, die Erinnerungsgeräusche des elektronischen Terminkalenders, das Schrillen des Telefons. Das Firmenfestnetz, das Privathandy – eins von der Firma? Nein, danke! – oh, nein! Es war doch die Baustellenleitung per Skype – seit wann ist das auf meinem Rechner installiert? Danke IT! Eine Zigarette raucht sich von selbst im Aschenbecher. Verdammt, der Technische Einkäufer sollte schon vor zwei Stunden ausgeplottete Pläne bekommen haben. Hmm, eine Email vom Kollegen mit Schmuddelkram, muss das sein? Hatte ich mir nicht gerade eine Zig… Sh… Meeting verpeilt! Was, noch ein Projekt parallel? Seit ihr wa….?!? Hunger… oh… das gelieferte Mittagessen ist seit fünf Stunden kalt. Ok, ja: ich komme mit in dein Büro. Nein, ich kann nicht noch dein halbes Projekt mitübernehmen. Was, es ist schon acht Uhr? Also wenn ich den heute nicht mehr erreiche, dann kann ich auch gleich heimfahren… Ich bin der letzte im Büro. Computer aus, Absaugung aus. Wow, so laut war das den ganzen Tag?

Die Pausenglocke unterbricht den Lehrstoff, die Werbepause den filmischen Spannungsbogen, die Ampelintervalle den Verkehrsfluss… und das Läuten des Telefons meine Berechnungen einer tragenden Blechkonstruktion. Fragmentierung – Vertaktung. Pausenglocken, Werkssirenen, Weckerticken, Terminerinnerung. Vertaktete Zeit ist laut. Genau wie mein Büro.

Endlich Ruhe?

Ich habe mir zuhause im kaum genutzten Raum ein Meditationszimmer eingerichtet. Tageslicht, keine Elektronik im Raum. Die Verkehrsgeräusche sind am Sonntag harmlos. Zeit für mich, endlich Ruhe. Kontemplation. Versenkung. Meditativer Zustand… Doch wo kommt dieser Pfeifton her? Das stört mich schon… Ich kann aber nichts finden. Ist es da drüben jetzt lauter oder leiser? Und warum höre ich diesen Ton immer noch, wenn ich mir die Ohren zuhalte? Oh! Scheiße!

Tinnitus Illustration

© staude 2015

Tinnitus aurium, das Klingeln der Ohren, ICD-10 H93.1. Ein Pfeifen, das nur mir gehört. Wirklich nur mir? 25% der Bevölkerung der sogenannten Industrieländer ist irgendwann in ihrem Leben mit Ohrgeräuschen konfrontiert. In Deutschland müssen 15% der älteren Bevölkerung damit leben, ständig und andauernd ein Geräusch wahrzunehmen, dass eigentlich nicht Teil der akustischen Umwelt ist. Lange dachten medizinische Expert*innen, Tinnitus würde im Innenohr entstehen, doch bleibt dieses Geräusch auch nach dem Durchtrennen des Hörnervs bestehen. Inzwischen gehen Neurowissenschafter*innen davon aus, dass es sich bei Tinnitus (infolge von Hörstörungen) ähnlich verhält wie bei Phantomschmerzen: das Gehirn kompensiert eine Hörstörung und reguliert die Aktivität der zentralen Hörbahn hoch – eine Fehlschaltung. Tinnitus ist wie das Brummen einer voll aufgedrehten Lautsprecherbox zwischen zwei Musikstücken – doch Stecker ziehen hilft hier nicht.

 

Wie Maden durch verfaulendes Fleisch wühlen sich die Bauarbeiter*innen mit ihren lärmenden Maschinen durch das Gerippe eines ehemaligen Wohnhauses.

 

Tinnitus. Was nun? Was tun?

Tinnitus ist ein Symptom, keine Krankheit. Die Ursachen für das Hörgeräusch sind vielfältig. Ein Knall kann der Auslöser gewesen sein oder eine Entzündung im Mittelohr. Eine falsche Bisslage oder Durchblutungsprobleme. Autoimmunerkrankung, Tauchunfälle, unaussprechliche Erkrankungen des Mittelohrs oder einfach ein Fremdkörper im Gehörgang. Das Symptom ist leicht diagnostiziert, das eigentliche Problem das dahinter steckt häufig nicht. Behandlung wird damit zur Symptombekämpfung: Durchblutungsfördernde Maßnahmen sollen einem geschädigten Hörnerv helfen, sich zu regenerieren. Geräuschquellen wie Zimmerbrunnen lassen die störenden Frequenzen in einem Geräuschteppich verschwinden. Und Stimmungsaufheller sollen die depressiven Verstimmungen – eine Folge der nervtötenden Geräusche – bekämpfen.

Tinnitus Illustration

© staude 2015

Ein anderer Weg bietet sich für Menschen an, die gerne Musik hören. Das Hamburger Startup Sonormed bietet Musikstücke bzw. das Nachbearbeiten von solchen an, aus denen – für jede Klient*in individuell – bestimmte Frequenzen herausgefiltert wurden. Tinnitracks heißt dieser Dienst, der so funktioniert: Die Tinnitus verursachenden Neuronen werden gehemmt, indem ihre Nachbarzellen mit den gefilterten Klängen stimuliert und damit trainiert werden. Leider ist Tinnitracks nicht gerade billig. Eine Lizenz über zwölf Monate kostet mehr als 500 Euro. In diesem Zeitraum können allerdings beliebig viele Musikstücke therapeutisch gefiltert werden und stehen auch nach Ablaufen der Lizenz noch zur Verfügung.

Tinnitus. What else?

Das Wäh-Wäh-Wäh des Weckers oder der nervige Kratky. Ach, wie gerne würde ich von einer der beiden Varianten geweckt werden! Doch seit einigen Wochen darf ich mir aussuchen, ob ich in den Sommermonaten lieber in meinem Schlafzimmer erschwitze und erstinke… oder doch lieber von den Erschütterungen eines Presslufthammers aus dem Schlaf gerissen werde. Punkt Sieben – also noch mitten in der Nacht – geht es los. Wie Maden durch verfaulendes Fleisch wühlen sich die Bauarbeiter*innen mit ihren lärmenden Maschinen durch das Gerippe eines ehemaligen Wohnhauses. Genau gegenüber! Und gleich daneben – eigentlich noch im Kreuzungsbereich zweier Wohnstraßen – hat sich ein*e Großhändler*in für Elektrogeräte eine Ladezone eingerichtet: zuschlagende Bordwände, laufen gelassene Dieselmotoren. Ach, wenn das nur alles wäre. Die rangierenden LKWs blockieren regelmäßig den Verkehr: Autohupen, Straßenbahnklingeln, das Piepen einer Rückfahrsirene.

Und ist es am Abend dann endlich still da draußen, dann bleibt sie dennoch aus: die Stille in meinem Kopf. Piiiiiiieeeep! Aaaaarrrrggghhhh!

 

Weiterführende Links:

Gesundheitsberichtserstattung des [Deutschen] Bundes: Hörstörungen und Tinitus:
www.gbe-bund.de/pdf/heft29_und_Wertetabellen.pdf

Homepage von Sonormed und Tinnitracks:
www.tinnitracks.com/

 

Dieser Text erschien erstmals in der Paradigmata – Zeitschrift für Menschen und Diskurse Vol.12.